Arbeiter*innen in der Seidenindustrie

Die Geschichte der Seidenweberei Weisbrod-Zürrer ist nicht nur eine Geschichte unternehmerischer Innovation, sondern auch ein Beispiel für den grundlegenden Wandel der Arbeitsverhältnisse in der Textilindustrie vom 19. bis ins frühe 21. Jahrhundert. Im Zentrum stehen dabei die Menschen, die über Generationen hinweg die Produktion aufrechterhielten. Oft unter Bedingungen, die von sozialer Ungleichheit, Abhängigkeit und mangelnder Absicherung geprägt waren.

Als das Unternehmen 1825 in Hausen am Albis gegründet wurde, war die textile Heimarbeit noch der dominierende Produktionsmodus. Weisbrod-Zürrer organisierte die Fertigung zunächst über ein ausgedehntes Netz von Heimweberinnen (insbesondere Frauen), die mit eigenen oder gemieteten Handwebstühlen in ihren Wohnräumen arbeiteten. Die Firma lieferte Seidengarn, gelegentlich auch technische Anleitungen, während die Arbeiterinnen für Produktionsmittel, Raum und Arbeitszeit selbst aufkamen. Die Entlohnung erfolgte im Stücklohn. Fehlerhafte Arbeit, Krankheit oder Unterbrechungen wurde dabei schlicht nicht bezahlt. Diese Form der Produktion war für die Unternehmer günstig und flexibel, für die Arbeiter*innen aber prekär, isolierend und schwer kontrollierbar.

Ab den 1860er-Jahren begann sich dieses Modell radikal zu verändern. Mit der Einführung mechanischer Webstühle und der Errichtung eigener Fabrikgebäude setzte bei Weisbrod-Zürrer die Industrialisierung ein. Der Übergang von der Heimarbeit zur Fabrikarbeit war mehr als nur ein technischer Fortschritt, er bedeutete eine massive Umstrukturierung der Lebens- und Arbeitsweise. In der Fabrik galt die Taktung der Maschinen, nicht der Rhythmus des Haushalts. Kontrolle, Disziplin und Zeitregime lösten die relative Selbstständigkeit der Heimarbeit ab.

Für viele Arbeiter*innen bedeutete das den Verlust von Autonomie ohne echten Zugewinn an Sicherheit. Die Arbeitsbedingungen in der Fabrik waren hart: lange Schichten, Lärm, schlechte Belüftung, ein hoher Takt. Frauen stellten weiterhin einen Großteil der Belegschaft, erhielten aber niedrigere Löhne als Männer und blieben von Entscheidungen ausgeschlossen. Kinderarbeit war, wie in der gesamten Textilindustrie jener Zeit, lange üblich, bevor gesetzliche Bestimmungen langsam Verbesserungen einführten.

Soziale Absicherung blieb über weite Strecken des 19. Jahrhunderts aus. Erst im 20. Jahrhundert kam es allmählich zu gesetzlichen Reformen. Etwa durch das Fabrikgesetz, das Arbeitszeitbegrenzungen und Schutzmaßnahmen für besonders gefährdete Gruppen einführte. Doch Weisbrod-Zürrer operierte lange in einem Spannungsfeld aus patriarchaler Dorfstruktur und ökonomischem Zwang. Gewerkschaftliche Organisationen waren kaum präsent, und die Nähe zwischen Betrieb und Dorfgemeinschaft schuf zusätzliche Abhängigkeiten: Wer bei Weisbrod-Zürrer arbeitete, war oft nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial auf das Unternehmen angewiesen.

Während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren verlagerte die Firma Teile der Produktion nach England, um den Zollschranken zu entgehen. Die betroffenen Arbeiter*innen hatten keinerlei Mitspracherecht bei solchen unternehmerischen Entscheidungen. Im späteren 20. Jahrhundert modernisierte Weisbrod-Zürrer die Produktion, entwickelte eigene Kollektionen und passte sich neuen Märkten an. Doch die grundlegende Logik blieb bestehen: Arbeit war Mittel zum Zweck, nicht Ausdruck von Teilhabe oder Mitgestaltung.

2012 wurde die Weberei endgültig geschlossen. Die Produktion war zuvor schon zunehmend in einer hochwertigen, kreativen Nische tätig, Massenproduktion war nicht mehr möglich. Ein Muster, das sich weltweit beobachten lässt: Sobald soziale Mindeststandards greifen, wandert die textile Fertigung weiter, oft in Regionen mit noch niedrigeren Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen.

Die Geschichte der Arbeiter*innen bei Weisbrod-Zürrer spiegelt damit eine größere Dynamik: den Wandel von vormoderner Heimarbeit zur industrialisierten Massenproduktion und die systematische Verlagerung von Risiko und Belastung auf jene, die am wenigsten davon profitierten. Es ist auch die Geschichte derjenigen, deren Leistung das Fundament für 200 Jahre Seidenglanz bildete und die doch oft im Schatten dieses Erfolgs blieben.

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